Herr Schmitz, Herr Knittel, Technische Versicherungen sind ja ein weites Feld. Welche Absicherungen gehören denn eigentlich alles zu diesem Bereich?
Stephan Schmitz: Bezüglich des weiten Feldes haben Sie Recht, die Technischen Versicherungen (TV) bieten ein weites Spektrum. Wir teilen die Sparten ein in Projekt- und Bestandsgeschäft, um eine erste Unterteilung zu schaffen. Zum Projektgeschäft zählen Bauleistungs- und Montageversicherung, beim Bestandsgeschäft denkt man in erster Linie an Elektronik- sowie Maschinenversicherung. Neben der Absicherung der Sachwerte in diesen Sparten ist häufig Bedarf für eine darüber hinausgehende Vermögensschaden-Deckung, also entsprechende Betriebsunterbrechungs- oder Mehrkostenversicherung.
Andreas Knittel: Ergänzend hierzu ist noch im Bestandsgeschäft die Garantieversicherung zu nennen. In dem Oberbegriff der Maschinenversicherung verbergen sich zudem zwei verschiedene Deckungen. Wir unterscheiden hier die Versicherung von fahrbaren und stationären Maschinen, bei denen jeweils separate Bedingungswerke zugrunde liegen. Neben der von Stephan beschriebenen Einteilung gibt es eine Reihe von besonderen Deckungen bzw. Produkten, die wir zu den Technischen Versicherungen zählen. Hierzu gehören zum Beispiel die Drohnenkaskoversicherung oder die Photovoltaikversicherung.
Welche Überschneidungen gibt es? Der GDV hat mehrere Musterbedingungen aufgelegt. Bringt die Vielzahl Verwirrung oder Klarheit?
Stephan Schmitz: Überschneidungen in den TV-Sparten sind selten, insbesondere in der Ausprägung der GDV-Bedingungen. Wenn diese jedoch verlassen werden, zum Beispiel bei Makler-Wordings oder Multiline-Produkten, kann es Grenzverletzungen geben. Und das führt dann zu Unsicherheiten.
Die Ansätze von TV und Industriesachversicherung sind unterschiedlich. Stark vereinfacht könnte man sagen, TV beschreibt die versicherte Sache sehr genau und bietet eine Deckung gegen (fast) alle möglichen Gefahren. Industrie-Feuer hingegen beschreibt detailliert die versicherten Gefahren und bietet eine Deckung für (fast) alle vorhandenen Sachen.
Bei einem handwerklich nicht ganz ausgereiften Mischprodukt könnten dann zum Beispiel folgende Fragen im Schadenfall zu Nervosität führen: In welchem Umfang ist die Gefahr Feuer versichert? Für welche Sachen gilt im Schaden Neu- oder Zeitwert? Inwiefern greift eine Betriebsunterbrechungsdeckung?
Andreas Knittel: Den Aussagen von Stephan kann ich nur zustimmen. Schwierig ist aber oft weniger die Überschneidung, sondern die Abgrenzung, wenn beispielsweise eine Projektdeckung in eine Bestandsdeckung übergeht. Hier spielt der Zeitpunkt eine wesentliche Rolle. Ein Beispiel aus der Montageversicherung: Nach der abgeschlossenen Montage einer CNC-Anlage und anschließendem Probebetrieb wird in der Regel durch eine Abnahmeerklärung auch die Montagedeckung beendet. Was aber passiert, wenn die Abnahme unterbleibt und im Weiteren unter dem Deckmantel des Probebetriebes die eigentliche Produktion schon beginnt? Das sind Fragestellungen, die oftmals nicht allgemeingültig in die Bedingungen einfließen können. Hier bedarf es oft einer individuellen Betrachtung.
Weiterhin versucht man, auch die Vielzahl an Bedingungen in den Technischen Versicherungen zu reduzieren. Ein Beispiel hier sind die recht neuen Bedingungen für die Bauleistungsversicherung (ABBL). Hier wurden die beiden älteren Bedingungswerke für den Bauherren (ABN) und die für die Unternehmerleistungen (ABU) zusammengeführt und die wenigen Unterschiede in Klauseln geregelt, die dann individuell zugesteuert werden können.
Nun ist gerade diese Sparte stark von der Digitalisierung und dem technologischen Fortschritt geprägt.
Welche neuen technischen Entwicklungen haben denn in den vergangenen Jahren die Anforderungen an den Versicherungsschutz vor allem geprägt?
Stephan Schmitz: Der technologische Fortschritt ist für die Technischen Versicherungen naturgemäß von besonderer Bedeutung. Sobald die Testphase der Prototypen abgeschlossen ist, wird eine umfassende Absicherung erwartet. Als Versicherer muss man sich also mit kommenden Technologien und Materialien auseinandersetzen. Gleiches gilt für gesellschaftliche Trends. Wer heute noch darüber nachdenkt, ob man in der Elektronikversicherung Betriebsmittel im Home-Office versichern kann, der hat die letzten beiden Jahre verschlafen. Themen wie die Sharing Economy oder Nachhaltigkeitsüberlegungen wie das Forcieren von „Reparatur vor Austausch“ sorgen für vermehrte Brainstorming-Sessions bei den Produktschmieden der Versicherer.
Andreas Knittel: In der Folge sind überarbeitete Produkte wie die Drohnenkaskoversicherung, die Photovoltaikversicherung oder die Versicherung von Windkraftanlagen entstanden. Hier wurden die neusten Entwicklungen berücksichtigt und versicherbar gemacht. Die „Kunst“ ist zum einen, auf die Bedürfnisse der Kunden einzugehen, und zum anderen, die Produkte für den Versicherer auch kalkulierbar zu gestalten. Dank digitaler Vernetzung und intelligenter Software werden Prozesse in der Wirtschaft effizienter, doch die Systeme werden auch anfälliger. Was bedeutet dies für Kunden?
Stephan Schmitz: Genau so ist es. Log4j hat ja soeben bewiesen, dass alle Branchen – selbst die Versicherer, die IT-Datensicherheit extrem ernst nehmen – kalt erwischt werden können. Schwachstellen gibt es nicht nur in der Java-Bibliothek, wie bei Log4j, sondern überall, wo eine Verbindung ans Internet besteht, auch bei Produktionsnetzwerken. Wir TV-ler, wie auch unsere Cyberkollegen, beobachten mit Sorge die Zunahme an gezielten Angriffen.
Durch „Silent Cyber“, also das Nicht-Ausschließen von Sachschäden, die aus Cyberangriffen resultieren, sind die TV-Sparten hier bei Schäden zuständig. Und für drastische Schadenszenarien braucht man hier nicht viel Fantasie. Bei Log4j konnten wir es beobachten: Die Schwachstelle ließ sich leicht ausnutzen, schnell stellte man eine unüberschaubar große Zahl von Angriffen aus Nordkorea, China, dem Iran und der Türkei fest.
Wie steht es um die Hardware?
Andreas Knittel: Neben dem Thema IT-Datensicherheit und den Cyberrisiken spielt für mich auch die Absicherung der Hardware eine immer größere Rolle. Die Gefahr eines Sachschadens und eines daraus entstehenden Betriebsunterbrechungsschadens wird bei einer vernetzten Anlage sicherlich höher sein, da die Anlagen komplexer und somit anfälliger werden. Wir haben beispielsweise in der Maschinenversicherung auch Konstruktions-, Material- und Ausführungsfehler versichert. Komplexer werdende Maschinen oder elektronische Anlagen bergen immer die Gefahr, dass die Konstruktion fehlerhaft ist und sich in der Folge daraus ein Sachschaden entwickeln kann. Und vernetzte Anlagen haben zudem die Eigenschaft, dass die Schäden besonders hoch und an mehreren Maschinen gleichzeitig eintreten können. Ein Grund mehr, die Anlagen vernünftig zu versichern.
Die Wirtschaft bekommt die Corona-Pandemie weiter zu spüren. Welche Folgen hat die Pandemie, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Thema Ausschlüsse oder Betriebsunterbrechung?
Stephan Schmitz: Als Folge der Omikron-Variante dürften weitere Lieferketten leiden, da Zulieferer vielleicht nicht aufgrund eines staatlichen verhängten, aber faktischen Lockdowns ausfallen: Beschäftigte erkranken in großen Mengen und müssen in Quarantäne. Chinas „No Covid“-Strategie mit drakonischen Abriegelungen bei Auftreten einer Erkrankung kommen hinzu.
Aber auch folgende Besonderheit betrifft uns: Die Baupreise in Deutschland sind so stark gestiegen wie zuletzt im August 1970. Ursachen sind unter anderem der Wegfall der befristeten Mehrwertsteuersenkung im zweiten Halbjahr 2020 und der rasante Kostenanstieg von Baumaterialien. Im Hochbau stellen wir zusätzlich massive Lieferengpässe fest. Dies wirkt unmittelbar auf Sparten wie die Bauleistung, aber natürlich auch auf „Reparatur“-Sparten für Gebäude, wie die Wohngebäude-, die gewerbliche oder industrielle Gebäudeversicherung.
Aber: Die TV-Sparte setzt für ihre Betriebsunterbrechungen immer einen Sachschaden voraus. Sachschadenunabhängige Deckungen, wie die durch Corona zu plötzlicher Berühmtheit gekommene Betriebsschließungsversicherung, gibt es nicht. Denkbar ist jedoch eine Gefahrerhöhung, wenn zum Beispiel aufgrund eines Lockdowns Wartungen nicht stattfinden können oder Monteure nicht mehr reisen dürfen. Viele Versicherer zeigten sich in der Vergangenheit kulant. In Zeiten des Lockdowns gab es etwa Prämienaussetzungen nach Maschinenstilllegungen. Tatsächlich sind aber erste Pandemie-Ausschlüsse auf dem Markt zu finden.
Andreas Knittel: Neben den von Stephan beschriebenen Szenarien sehen wir aktuell auch Auswirkungen in der Bauindustrie und der damit verbundenen Bauleistungsversicherung. Aufgrund der Lockdowns in der Vergangenheit und der Knappheit der Ressourcen beim „Wiederanspringen“ der Wirtschaft danach werden häufig Bauprojekte nicht zum geplanten Zeitpunkt fertigstellt, was zu einer teilweise erheblichen Verlängerung der Bauzeit und somit der Bauleistungsversicherung führt.
Auch in der Maschinenversicherung, speziell bei den fahrbaren Geräten, können wir die Auswirkungen erkennen. Ähnlich wie in der Automobilindustrie sind durch Lieferkettenverzögerungen oder durch Lockdowns gewisse Teile wie Halbleiter (Chips) sehr knapp, sodass beispielsweise Baumaschinen verzögert oder gar nicht verkauft und damit auch nicht versichert werden können. Wer als Versicherer viel mit Finanzierern oder Herstellern in dem Bereich zusammenarbeitet, kann das beobachten.
Welche weiteren Trends bzw. Entwicklungen nehmen Sie aktuell auf dem Markt wahr?
Andreas Knittel: Ein wesentlicher Trend der letzten Jahre ist die Zusammenarbeit mit sogenannten Vergleichern. Zu beobachten ist, dass man auch einfache Produkte aus den Technischen Versicherungen wie der Elektronikversicherung oder der Bauleistungsversicherung für private Bauherren vermehrt in die Plattformen integriert. Der Vorteil ist, dass damit auch der Standardisierungsgrad von Einfachprodukten erhöht wird.
„Nischenprodukte“ wie die oben genannte Drohnenkaskoversicherung stellen einen weiteren Trend dar. Denn durch immer neue Technologien oder Verfahren, wie beispielsweise den steigenden Einsatz von Drohnen bei Vermessungen oder anderen geologischen Erkundungen, bedürfen sie der Absicherung im Schadenfall.
Einen weiteren Trend sehen wir seit Jahren in der Ausweitung des Deckungsumfanges und der immer höher werdenden Sublimits für Kosten und Zusatzdeckungen bei gleichen oder sogar noch reduzierten Beiträgen. Insbesondere in den Makler-Wordings ist dies zu erkennen. Hier ist für die Zukunft wichtig, die richtige Balance zu finden.
Und wie steht es um das Thema Nachhaltigkeit?
Andreas Knittel: Stephan hat ja oben schon ausgeführt, dass die Nachhaltigkeit ein wichtiges Thema der Assekuranz ist. Neben dem genannten Aspekt in den Versicherungsprodukten „Reparatur vor Austausch“ investieren die Versicherer in erneuerbare Energien wie Photovoltaik- oder Windkraftanlagen und kommen somit ihrer ökologischen Verantwortung nach. Dies findet sich natürlich dann auch in den Versicherungsprodukten wieder, indem man diese Art von Anlagen versichert.
Stephan Schmitz: Ein derzeit brandheißes Thema. Derzeit überlegen alle Versicherer, wie sie sich hier genau positionieren. Auch die europäische Frage, ob Gas- und Atomkraft nun „grün“ sind oder nicht, muss in den Zeichnungsrichtlinien der deutschen Versicherer geklärt werden. Für TV-Versicherer ist dies nicht immer leicht, da ein Abgleich mit den ESG-Kriterien oftmals auf Branchenebene erfolgt – die technischen Versicherer jedoch nicht auf die Branche, sondern auf versicherte Sachen schauen. So war es zum Beispiel in der Vergangenheit klar, dass ein Bagger versichert werden kann. Wie wird es jedoch zukünftig, wenn dieser Bagger im Rahmen von „Fracking“ oder im Erzbergbau eingesetzt wird?
Die Versicherungsexperten Stephan Schmitz und Andreas Knittel haben ein Buch zum Thema Technische Versicherungen veröffentlicht. Weitere Informationen finden sich hier.
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