Interview mit Dr. Alexander Mahnke, Vorstandsvorsitzender des GVNW e. V.
Herr Dr. Mahnke, Sie haben zuletzt bei den Vertragsverlängerungen die Kommunikation mit den Industrieversicherern kritisiert. Wurde Ihre Kritik dort gehört?
Unsere Kritik aus dem letzten Jahr wurde von den Versicherern sehr wohl gehört und es ist uns als Verband gelungen, in der ersten Jahreshälfte eine Reihe von Gesprächen zwischen uns und unseren Mitgliedern mit diversen Vorständen namhafter Industrieversicherungen durchzuführen. In diesen Diskussionen haben wir deutlich eine kritische Selbstwahrnehmung der Risikoträger registriert, was uns Anlass zur Hoffnung gegeben hat, dass die zum Jahresende anstehenden Prolongationen besser verlaufen würden.
Leider hören wir derzeit aus unserer Mitgliederschaft, dass dies nicht der Fall ist. Verbesserung sehen wir zwar insoweit, als frühzeitiger über einen Anpassungsbedarf bei den infrage stehenden Versicherungsdeckungen gesprochen wird. Trotzdem erhalten viele unserer Mitgliedsunternehmen erst sehr kurz vor Ablauf ihrer Kündigungsfristen von ihren Versicherern verbindliche Angebote. Dabei wird eben nicht berücksichtigt, dass Verlängerungsangebote zunächst geprüft und unternehmensintern durch Genehmigungsprozesse laufen müssen und eben nicht kurzfristig angenommen werden können. Die Folge ist, dass es bei vielen Verträgen – völlig unnötig – wieder zur Verkürzung von Kündigungsfristen kommt, und dies, obwohl die meisten unserer Mitglieder ihren Prolongationsprozess in diesem Jahr noch früher angestoßen haben als in den Vorjahren.
Hinzu kommt der Eindruck, dass bei vielen Versicherern auf Ebene des Underwritings keine Entscheidungen mehr getroffen werden, also viele Entscheidungsprozesse bei den Versicherern in die Leitungsebene eskaliert werden müssen. Ob dies daran liegt, dass die Underwriter nicht entscheiden dürfen, wollen oder können, vermögen wir nicht zu sagen.
Sie sagen, Sie wollen, dass die Versicherer auskömmliche Prämien erhalten und wirtschaftlich arbeiten sollen, beklagen aber auch die Preissteigerungen und Kapazitätsreduzierungen in den vergangenen Monaten. Geht beides überhaupt zusammen?
Jedes Unternehmen hat das Ziel, kostendeckend und gewinnorientiert zu arbeiten. Es geht aber um die Art und Weise, wie sich die Marktteilnehmer verhalten. Die Zyklen zwischen sogenanntem „weichen“ und „harten“ Markt sind ja nichts völlig Neues, die Geschichte wiederholt sich hier.
Neu ist aber, dass Nachlässigkeiten der Versicherer, zum Beispiel bei der Einschätzung und Bepreisung von Risiken, die sich über einen längeren Zeitraum zu Verlusten aufgebaut haben, von heute auf morgen korrigiert werden sollen. Und da haken wir ein. Jede Veränderung auf der Kostenseite eines Unternehmens muss in den eigenen Planungsprozessen verarbeitet werden, deswegen fordern wir Transparenz, Verlässlichkeit und vor allem Planungssicherheit. Bei guten bis sehr guten Schadenverläufen sind zweistellige Prämienerhöhungen nur schwer zu vermitteln, gerade auch wenn die eigene Risikoqualität als gut zu bewerten ist. Es gilt, das Maß nicht aus den Augen zu verlieren und den Zeithorizont für notwendige Anpassungen vernünftig zu gestalten.
Was erwarten Sie dann für das nächste Jahr?
Wie schon erwähnt, ist die Situation für viele unserer Mitglieder aktuell so herausfordernd wie im letzten Jahr. Insbesondere in den Sparten D&O und Cyber, für einige Branchen aber auch bei ihren Haftpflicht- und Rückrufkostenversicherungen wird die Situation auf absehbare Zeit weiter schwierig bleiben. Eine deutliche Verbesserung ist nach unserer Einschätzung nicht in Sicht.
Für nächstes Jahr erwarten wir marktübergreifend eine grundsätzliche Stabilisierung, wenngleich die Risiken aus Naturkatastrophen – nicht nur die aus Deutschland – den Druck auf die Versicherungen von Elementargefahren hoch halten.
Sie mahnen Makler und Versicherer zudem an, bei der Digitalisierung zu beschleunigen. Wo hapert es?
Unsere Branche ist leider schlecht bei der Automatisierung und Digitalisierung ihrer Prozesse. Es hapert überall. Während unsere Mitgliedsunternehmen im Rahmen ihrer Transformationsprozesse fortlaufend automatisieren und zunehmend auch digitalisieren, ist das in der (Industrie-) Versicherungswelt weiterhin nicht bzw. nicht ausreichend der Fall. Wir sehen zwar Aktivitäten, die wir als Verband auch aktiv begleiten, aber immer noch sind bei den meisten Versicherungsgesellschaften und auch bei den Maklern in fast allen Arbeitsbereichen manuelle Prozesse an der Tagesordnung.
Diese Problematik besteht vorrangig darin, dass es nur wenige Akteure gibt, die global an der Vernetzung von bestehenden Systemen und Plattformen arbeiten. Die meisten Versicherer und Makler bevorzugen aber immer noch eigene Lösungen, die sich dann untereinander nur schwer oder gar nicht miteinander synchronisieren lassen. In vielen der von uns vertretenen Industrien ist es hingegen normal, dass übergreifend Daten, gemeint sind rechtlich unkritische System- und Prozessdaten, kosten- und prozesseffizient ausgetauscht werden. Hieran sollte sich der Industrieversicherungsmarkt orientieren.
Können Sie uns mal zwei oder drei konkrete Beispiele nennen?
Wenn Unternehmen heute ein Sachversicherungsprogramm ausschreiben, fragen alle Versicherer mehr oder weniger die gleichen Risikoinformationen ab, aber jeweils in anderer Form und über unterschiedliche Medien. Im Ergebnis werden immer noch analoge Dokumente per E-Mail an die Beteiligten versandt oder mittels virtueller Datenräume zur Verfügung gestellt. Das kann eigentlich nicht sein. Hier bestehen offensichtliche Opportunitäten zur Effizienz- und damit auch Kostenverbesserung.
Ein weiteres Beispiel: Im Rahmen größerer internationaler Versicherungsprogramme mit einer Vielzahl beteiligter Versicherer haben Versicherungsnehmer zumeist keine Möglichkeit, zentral alle ihre versicherungsrelevanten Informationen abzurufen und entsprechende Reports zu generieren. Hierfür gibt es keine standardisierte Plattform, jeder Versicherer bietet eigene Systeme an, die miteinander nicht oder nicht ausreichend harmonieren. Stattdessen müssen die industriellen Versicherungsnehmer dann sog. „Risikomanagementinformationssysteme“ für teures Geld extern einkaufen oder gar selbst entwickeln. Das ist nicht mehr zeitgemäß, bindet unnötige Ressourcen und ist in hohem Maße (kosten-)ineffizient.
Sie sprechen sich für die staatliche Beteiligung an Versicherungslösungen für systemische Risiken aus. Um welche Bereiche geht es Ihnen?
Im Wesentlichen geht es dabei um solche Bereiche, die der Versicherungsmarkt nicht allein bewältigen kann. Beispielsweise bei bestimmten Cyberrisiken wie bei einem konzertierten Angriff auf kritische Infrastrukturen, also bei einem Kumulrisiko, das die Erst- und Rückversicherer nicht alleine tragen können.
Genauso ist es unseres Erachtens volkswirtschaftlich sinnvoller, für Ereignisse wie globale Pandemien sogenannte PPP-Modelle aufzusetzen, also privatwirtschaftlich-staatlich finanzierte Lösungen. Die Versicherungswirtschaft hat die notwendige Erfahrung und verfügt über geeignete Prozesse für eine risikogerechte Kalkulation und strukturierte Schadenabwicklung, aber die Finanzstärke reicht mit Blick auf die potenzielle Höhe der Risiken nicht aus. Umgekehrt kann der Staat dann, wenn sich solche Risiken realisieren, nicht immer nur zulasten der Steuerzahler Finanzierungspakete schnüren und verteilen. Eine Finanzierung durch Aufnahme weiterer Schulden wird das Problem bekanntermaßen nur auf künftige Generationen abwälzen.
Daher ist aus unserer Sicht eine Kombination der für eine Risikofinanzierung und Risikobewältigung zur Verfügung stehenden privatwirtschaftlichen und staatlichen Instrumente ein vernünftiger Weg, über den wir gerne mit den relevanten Institutionen und Personen reden möchten.
Glauben Sie dabei an schnelle Fortschritte?
National eher noch als auf EU-Ebene, aber grundsätzlich leider nein, da vor allem auf politischer Ebene aktuell leider keine wirkliche Gesprächsbereitschaft erkennbar ist.
Welche weiteren Risiken sehen Sie denn auf die Industrie zukommen, bei der Sie auf die Begleitung vonseiten der Versicherer setzen?
Die Risiken für die global vernetzte Wirtschaft sind immens. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die globalen Lieferketten sind gravierend. Hinzu kommen neue Risiken wie zum Beispiel Risikoverschlechterungen durch klimatische Veränderungen, aber auch durch technologische Entwicklungen, deren Herausforderungen auf der Grundlage unseres bisherigen Wissens- und Erfahrungsstandes heute noch gar nicht abschätzbar sind. Je frühzeitiger ein Dialog zwischen Versicherern und Versicherungsnehmern auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse und Analysen in Gang kommt, desto besser.
Dabei kann und muss der Versicherer im ersten Schritt gar nicht vollumfänglichen Versicherungsschutz bereitstellen, aber sehr wohl eigene und externe Erkenntnisse bzw. Forschungsergebnisse für einen objektiven Risikodialog zur Verfügung stellen. Der Versicherer hätte dann die Chance, an der Seite des Versicherungsnehmers als eine Art objektiver Risikoberater für „Emerging Risks“ wahrgenommen zu werden und sich so die Möglichkeit zu verschaffen, diese Risiken zwecks Entwicklung geeigneter und nachhaltiger Versicherungsprogramme frühzeitig zu verstehen.
Dieses Interview lesen Sie auch in AssCompact 11/2021, Seite 53 ff., und in unserem ePaper.
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