Das Oberlandesgericht (OLG) Bremen hatte sich in seinem Urteil vom 12.09.2011 (Az.: 3 U 12/11), veröffentlicht in der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) 2011, 322, mit dem Nachprüfungsrecht des Versicherers in der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung beschäftigt.
Versicherter macht Leistung rechtlich geltend
Der als Konstruktionsschlosser tätige Versicherungsnehmer hatte im Rahmen eines Vorprozesses Ansprüche wegen gravierender Rückenprobleme aus einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung mit Erfolg geltend gemacht. Der von ihm verklagte Versicherer war durch Urteil des OLG Bremen zur Zahlung der versicherten Berufsunfähigkeitsrente verurteilt worden, nachdem im Rahmen einer Beweisaufnahme festgestellt worden war, dass der Kläger aus orthopädischer Sicht zu 60% berufsunfähig war.
Weitere gerichtliche Feststellung gefordert
Mit dem für ihn günstigen Urteil gab sich der Kläger jedoch nicht zufrieden, sondern forderte den Versicherer darüber hinaus auf, zu erklären, dass ihm kein Nachprüfungsrecht bezüglich seines Gesundheitszustandes zustehe, weil mit einer Besserung seiner Beschwerden nach seiner Auffassung nicht zu rechnen sei. Mit dieser Rechtsauffassung konnte sich der Kläger zu Recht durch zwei Instanzen hindurch nicht durchsetzen.
Kein „Generalausschluss“
In den Entscheidungsgründen führte das OLG Bremen Folgendes aus: Selbst aus der Tatsache, dass nach der bestrittenen Behauptung des Klägers keine Heilungsmöglichkeit bestehe, ergebe sich weder aus § 307 Abs. 1 BGB noch aus § 242 BGB ein „Generalausschluss“ des Nachprüfungsrechts des Versicherers.
Nachprüfungsrecht auch bei unheilbare Erkrankungen
Unter Bezugnahme auf dieses Urteil ist zum Teil die Rechtsauffassung vertreten worden, bei unheilbaren Erkrankungen könnten unter Umständen weitere Untersuchungen des Versicherten von dem Versicherer nicht verlangt werden (vgl. Jöhnke auf asscompact.de vom 03.11.2021). Dies könnte den fälschlichen Eindruck hervorrufen, dem Versicherer stehe kein Nachprüfungsrecht zu, wenn die versicherte Person an einer unheilbaren Krankheit erkrankt sei. Dem ist allerdings nicht zu folgen.
Zuletzt ausgeübter Beruf entscheidend
Bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit liegt schon nach dem gesetzlichen Leitbild des § 172 Abs. 2 VVG vor, wenn die versicherte Person ihren zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechenden Kräfteverfalls ganz oder teilweise voraussichtlich auf Dauer nicht mehr ausüben kann. Es kommt demzufolge darauf an, ob der zuletzt in gesunden Tagen konkret ausgeübte Beruf infolge Krankheit, Körperverletzung oder mehr als altersentsprechenden Kräfteverfalls nicht mehr ausgeübt werden kann.
Einschlägige Musterbedingungen
Dies entspricht den üblichen Formulierungen in den einschlägigen Musterbedingungen (vgl. z. B. § 2 Abs. 1 der GDV-Musterbedingungen, Stand 28.04.2021). Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei dem Versicherungsfall „Berufsunfähigkeit“ um einen sogenannten gedehnten Versicherungsfall (vgl. BGH vom 14.12.2016, Az.: IV ZR 527/15).
Gedehnter Versicherungsfall
Wesensmerkmal eines gedehnten Versicherungsfalls ist nicht sein schrittweises Eintreten, sondern die Fortdauer des mit seinem Eintritt geschaffenen Zustandes über einen – mehr oder weniger langen – Zeitraum, sofern diese Fortdauer nicht nur bestimmend ist für die Pflicht des Versicherers zur Erbringung einer einmaligen Versicherungsleistung, sondern deren Umfang im Einzelfall erst bestimmt (vgl. BGH vom 12.04.1989, AZ: IV a ZR 21/88).
Ist eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit eingetreten?
Für den Eintritt des Versicherungsfalls „Berufsunfähigkeit“ ist demzufolge nicht entscheidend, ob die versicherte Person an einer bestimmten Erkrankung erkrankt ist, sondern ob sie infolge dieser Erkrankung so in der Ausübung ihres zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Berufs beeinträchtigt ist, dass nach Maßgabe des Versicherungsvertrags eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit eingetreten ist.
Unheilbarkeit ist keine relevante Kategorie
Für den Eintritt des Versicherungsfalls „Berufsunfähigkeit“ reicht es demzufolge nicht aus, dass der Versicherungsnehmer nachweist, an einer unheilbaren Krankheit erkrankt zu sein, denn allein aus der Tatsache, dass jemand an einer unheilbaren Krankheit leidet, ergibt sich das Maß der Beeinträchtigung noch nicht. Es ist vielmehr zu überprüfen, wie stark die versicherte Person durch die unheilbare Erkrankung in der Ausübung ihres Berufs gehindert ist.
Nicht die Frage, ob eine Krankheit heilbar oder unheilbar ist, entscheidet somit über die Eintrittspflicht des Versicherers, sondern, ob durch eine Erkrankung, sei sie nun unheilbar oder nicht, solche Beeinträchtigungen ausgelöst werden, dass hieraus bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit resultiert.
Kein Unterschied zwischen Erst- und Nachprüfung
Dieser Grundsatz gilt sowohl im Erstprüfungsverfahren als auch im Nachprüfungsverfahren, weil der Begriff der Berufsunfähigkeit sowohl im Erst- als auch im Nachprüfungsverfahren gleich ist (vgl. BGH vom 24.02.2010, Az.: IV ZR 119/09). Aus diesem Grund kann der Versicherer im Nachprüfungsverfahren selbst bei Vorliegen einer unheilbaren Erkrankung überprüfen, ob der gedehnte Versicherungsfall „Berufsunfähigkeit“ noch fortbesteht.
Nicht alles ist zumutbar
Allein die Behauptung, es liege eine unheilbare Erkrankung vor, kann dem Versicherer das Recht auf die Durchführung des Nachprüfungsverfahrens somit nicht nehmen. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob sich die versicherte Person jeder medizinischen Untersuchung zu unterziehen hat. Dies ist zu verneinen, denn sowohl im Erst- als auch im Nachprüfungsverfahren ist der Versicherte nur im Rahmen des Zumutbaren verpflichtet, sich von den durch den Versicherer beauftragten Ärzten untersuchen zu lassen.
Aus § 31 Abs. 1 Satz 1 VVG, der nach § 32 VVG ohnehin nicht zwingend ist, ergibt sich nichts Abweichendes. Insbesondere lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen, dass dem Versicherer bei Vorliegen bestimmter, möglicherweise unheilbarer Erkrankungen ein Nachprüfungsrecht versagt ist.
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